Wenn es uns gelungen ist, in der Praxis oder Ambulanz unsere Diabetiker:innen so weit zu motivieren, die Umsetzung ihrer Therapie von unserem zu ihrem eigenen Anliegen zu machen, dann kommt welche Frage oder Sorge den Betroffenen wohl als erste in den Sinn? Wie kann ich in meinem Alltag diese oft sehr komplexen Empfehlungen wirklich umsetzen? Wie schaffe ich die Balance von für mich gewohnten Vorgangsweisen, Traditionen und Gewohnheiten hin zur Einbindung neuer, ungewohnter Überlegungen und Handlungsweisen in meinem persönlichen Alltag?
Ich darf mich im Folgenden auf die drei Säulen unserer Therapie beziehen: Ernährung, Bewegung und Medikation – ergänzt durch die Basis, auf der wir diese alltäglichen Dinge umsetzen, unserem Hintergrundwissen um die Kernpunkte der Erkrankung (Stichwort Schulung) – hier gibt es einiges zu beachten. Ernährung und Bewegung sind wohl die individuellsten Parameter in unserem Alltag, aber auch am intensivsten durch unsere Gewohnheiten geprägt, Gewohnheiten, die wir nicht so einfach verlassen wollen und werden. Daher ist der erste Schritt zu einer Annäherung an eine Verbesserung die „absolute“ Offenheit und Transparenz unserem betreuenden Diabetesteam gegenüber – sei es der/die Diabetesberater:in, Ernährungsberater:in oder auch betreuende/r Arzt oder Ärztin. Wir brauchen die Informationen, was Sie gerne tun, wovon Sie sich nicht trennen können, was Sie selbst als Problem empfinden und eventuell bereits seit Langem verändern wollen, wofür aber bisher keine Hilfe zur Verfügung stand.
Wenn es uns gelingt, hier eine ganz offene und viele Teilbereiche umfassende Bestandsaufnahme zu machen, wird es auch gelingen, sich Veränderungen anzunähern. Ich bin der festen Überzeugung, dass radikale Änderungen unseres Lebensstils zwar kurzfristig auch positive Ergebnisse bringen können, allerdings nur in den seltensten Fällen lange anhalten. Eine Verbesserung unseres Lebensstils brauchen wir aber 24 h/7 Tage die Woche, da wir von unserem Diabetes keinen einzigen Tag „Urlaub“ nehmen können. Sobald wir unsere Gewohnheiten offengelegt haben, können die ersten Schritte der Veränderung beginnen. Kleine Schritte mit Nachhaltigkeit sind hier gewiss zu bevorzugen. Die Einblicke in die Ergebnisse dieser ersten Änderungen sind aber ebenso wichtig, das heißt, wir sollten ganz gezielt beobachten, wie sich unsere BZ-Werte, unser Gewicht, aber auch unser Wohlbefinden verändern. Nur wenn wir wahrnehmen, dass unsere Lebensstilveränderungen auch positive Folgen zeigen, werden wir dabeibleiben und uns zu weiteren Schritten überzeugen lassen. Hier ist gewiss viel Geduld erforderlich. Diabetes ist eine chronische Gesundheitsthematik und verlangt nur in wenigen Fällen ganz akute Interventionen, die dann meist in der Klinik erfolgen müssen. In der Regel können wir eine Strategie der kleinen Schritte erfolgreich umsetzen.
Wir können uns gewiss von den positiven Erfahrungen anderer Betroffener Unterstützung holen, aber jeder Mensch ist hinsichtlich seines Lebensstils einzig, und Veränderungen zeigen sich bei jedem in unterschiedlicher Weise. Dabei sind natürlich auch die unterstützenden Medikamente in ihrer Wirkung sehr unterschiedlich. Daher ist die oft besprochene Problematik, warum diese oder jene Medikationsstrategie bei mir viel schlechter wirkt als bei meinem „Nachbarn“, ein wichtiger Aspekt im Therapieverständnis. Es liegt an der Tatsache, dass er oder sie niemals die gleiche „Diabetes-Geschichte“ mit sich trägt.
Umso wichtiger ist es, diese individuellen Strategien auf jeden Patienten anzupassen, auf sein Leben zuzuschneiden. Dies ist immer ein dynamischer Prozess und bedarf einer kontinuierlichen Beobachtung. Wenn es zum Beispiel in den Wochen einer Kur oder Stoffwechsel-Rehab gelingt, die BZ-Situation zu stabilisieren, ist es eine absolute Notwendigkeit, unter heimischen Bedingungen die Therapie zu modifizieren. Dafür wiederum benötigen wir strukturierte BZ-Dokumentationen, die für uns die Basis einer optimalen Gestaltung der Therapie sind. Welche Form der BZ die bestmögliche ist, sollten die Betroffenen immer proaktiv mit dem betreuenden Diabetesteam besprechen und gemeinsam entscheiden. Auch hier ist die offene Diskussion ein entscheidender Punkt. Wenn ich als Diabetologe diese oder jene Frequenz an Messungen vorschlage, so tue ich dies mit dem Hintergedanken, die bestmögliche Information über den Verlauf zu bekommen. Wenn wir jetzt zum Beispiel vor allem BZ-Spitzen nach dem Essen als Ursache für die nichtoptimale HBa1c-Entwicklung vermuten, so macht eine Nur-Nüchtern-BZ-Dokumentation hier keinen Sinn. An uns liegt es, dies den Patient:innen zu vermitteln. Da Diabetestherapie aber immer ein Teamwork ist, sind wir voll und ganz auf die Kooperation unserer Patient:innen angewiesen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Therapieerfolg, vor allem auch für das langfristige Erhalten der Lebensqualität, ist die Bereitschaft, Therapien, wenn sie keinen ausreichenden Erfolg zeigen bzw. im Alltag nicht umsetzbar sind, zeitnah zu verändern. Ich bin kein großer Freund des Aufschiebens wie „Bitte warten wir noch drei Monate, und noch drei Monate …“ – damit wird es uns vermutlich nicht gelingen, eine positive Entwicklung für die zuvor genannte Lebensqualität und auch Vorsorge eventueller Folgeerkrankungen zu gewährleisten.
Abschließend möchte ich besonders darauf hinweisen, dass im Umgang mit einer chronischen Erkrankung, wie sie all die unterschiedlichen Formen des Diabetes darstellen, die Bereitschaft, Informationsauffrischungen aktiv zu suchen bzw. anzunehmen – Stichwort: Schulungsauffrischung – der beste und wichtigste Schlüssel zu einem langfristig erfolgreichen Leben mit Diabetes ist. Wir Diabetologen machen Therapieempfehlungen entsprechend den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien. Wir versuchen, diesen Weg an Ihre individuellen Lebensumstände anzupassen. Die Therapieumsetzung im Alltag obliegt Ihnen. Daher sind wir auf Ihre Rückmeldung angewiesen, um ein optimales Ergebnis im bestmöglichen Teamwork zu erreichen.
Prim. Dr. Christian Schelkshorn
seit 40 Jahren Typ-1-Betroffener
seit 24 Jahren Internist und Diabetologe