Diabetische Polyneuropathie

1. EINLEITUNG


Diabetiker:innen mit Polyneuropathie: Die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) wird derzeit als weltweit größtes Gesundheitsproblem von der WHO angeführt, wobei bis zum Jahr 2030 366 Millionen Menschen mit dieser Erkrankung erwartet werden.


Von dieser sehr hohen Zahl der Erkrankten ist die Polyneuropathie („Viel-Nervenkrankheit“) die häufigste Komplikation der Zuckerkrankheit. Sie tritt bei zumindest 50 % aller Diabetiker auf.


Die diabetische Polyneuropathie ist die vorrangige Ursache für eine merkbare Behinderung mit Gangstörung, Verletzungen durch Stürze sowie Amputation durch nichtabheilende Fußgeschwüre und weitere Folgeschäden.


Wichtig ist, dass eine Polyneuropathie bei Diabetiker:innen nicht automatisch eine diabetische Polyneuropathie sein muss, sondern auch andere Neuropathieformen „zufällig“ bei Patient:innen mit Blutzuckerkrankheit auftreten können. Daher ist eine genaue Unterscheidung der Art der Beschwerden und Symptome und somit der Polyneuropathie bei diesen Patient:innen besonders wichtig.


2. FORMEN DER DIABETISCHEN POLYNEUROPATHIE


Es ist wesentlich, dass das Auftreten einer diabetischen Polyneuropathie sehr unterschiedliche Präsentationsformen zeigen kann. Da die Verläufe bei den verschiedenen Formen, und auch die dann zu treffenden Maßnahmen sehr unterschiedlich sind, ist eine exakte Differenzierung unbedingt notwendig.


a) Distal symmetrische Polyneuropathie


Am häufigsten sind die sogenannten „sockenförmigen“ oder „socken- und handschuhförmigen“ Polyneuropathien, die im Sockenbereich, meist an den Zehen und Unterseite der Vorfüße beginnend und dann erst langsam über Monate fallweise Jahre bis zu den Knöcheln aufsteigen. Deutlich seltener sind auch die Finger und Hände bei dieser diabetischen Polyneuropathieform betroffen.


Die Gefühlsstörungen in diesen Bereichen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Gelegentlich beschreiben Personen nur ein abgeschwächtes Hautgefühl mit verminderter Wahrnehmung von Berührung.


Neben dem rein abgeschwächten Hautgefühl ist besonders häufig auch ein gewisses Kribbeln, Ameisenlaufen, Brennnesselgefühl etc. vorhanden. Es ist sehr charakteristisch, dass die Patient:innen im Rahmen des Arztgespräches die Art der Beschwerden schwer formulieren können und auch Wörter wie „dumpf, bamstig, komisch, kitzelig, nicht wirklich schmerzhaft, aber unangenehm“ genannt werden. Die nichtexakte Formulierung ist für die Ärztinnen und Ärzte bereits ein exakter Hinweis, da es eben charakteristisch ist, dass nervenbedingte Missempfindungen schwer zu beschreiben sind.


Neben diesen verminderten Wahrnehmungen und diesen veränderten Hautgefühlen wie Kribbeln und Ameisenlaufen können aber auch in diesen Arealen sich zunehmende Nervenschmerzen entwickeln. Diese sind etwa in 10–20 %
bei allen diabetischen Polyneuropathien vorhanden und sind in weiterer Folge eine große therapeutische, aber meist doch bewältigbare Herausforderung.


Weiters ist typisch, dass die Beschwerden nicht immer beidseitig beginnen, auch wenn dies so sehr häufig in den Lehrbüchern angeführt wird. Ein einseitiger Beginn und auch über viele Jahre ein etwas vermehrter Befall einer Körperseite schließt eine symmetrische Polyneuropathie nicht aus. Es muss aber immer zumindest ein teilweiser Befall nach mehreren Monaten auf beiden Seiten vorhanden sein.


Wichtig ist, dass ein Kribbeln in Füßen und Beinen nicht automatisch nur auf ein Nervenleiden zurückgeführt werden kann und andere Ursachen hier möglich sind. Darauf wird noch eingegangen.


Sehr häufig entwickelt sich durch die verminderte Gefühlswahrnehmung eine Gangunsicherheit (Gangataxie). Diese ist meist langsam fortschreitend und kann im Laufe der Jahre eine sehr unangenehme Symptomatik werden. Kennzeichnend ist die Verschlechterung des Gehens im Dunkeln bzw. bei geschlossenen Augen.


b) Diabetische Nervenwurzelschädigung – Radikuloplexopathie:


Diese seltenere Form der diabetischen Neuropathie ist oft sehr eindrücklich. Sie beginnt oft relativ akut innerhalb weniger Tage und wird von starken neuropathischen Schmerzen und auch von Lähmungen begleitet. Meist ist das Nervenwurzelgeflecht in der Lendenwirbelsäule – Plexus lumbosacralis – betroffen. In aller Regel ist dies einseitig. Die Schwäche des Oberschenkels ist bald von einem zunehmenden Muskelschwund – Muskelatrophie – begleitet. Neben dem Befall der motorischen Nervenfasern sind aber auch die Hautnerven und autonome Nervenfasern betroffen.


Insgesamt sind also ein subakut bis akuter Verlauf, eine Einseitigkeit (Asymmetrie) und die motorische Beteiligung sowie die Schmerzen im Vordergrund. Hier ist es sehr wichtig, von einer autoimmunentzündlichen Neuropathie zu unterscheiden. Bei der diabetischen Radikuloplexopathie liegt die Ursache in einer akuten Entzündung der Gefäße, welche den Nerv und die Nervenfasern versorgen.


Eine rasche ärztliche Konsultation ist wichtig, da therapeutische Optionen bestehen (s. Therapien in der nächsten Ausgabe von MEIN LEBEN).


c) Diabetische Mononeuropathien


Im Unterschied zu der diabetischen Vielnervenerkrankung bedeutet die diabetische Mononeuropathie den Befall eines Einzelnerven. Diese kann meist auch subakut bis akut auftreten und meist schmerzhaft sein. Typischerweise werden hier die Nerven beispielhaft im Gesicht befallen, wie Augenmuskelnerven, Nervus oculomotorius und Nervus abducens, weiters kann auch der Gesichtsnerv – Nervus facialis – betroffen sein oder einzelne Nerven im Bereich der Hände oder Beine wie Ellennerven (Sulcus nervi ulnaris-Syndrom), des Mittelnerven (Nervus medianus mit Karpaltunnelsyndrom) oder im Bereich des Vorfußes (Schienbeinnerv) in Form des Tarsaltunnelsyndroms. Die Diagnose ist vor allem durch eine exakte neurologische Untersuchung und eine nachfolgende Nervenleitgeschwindigkeit gut gegeben. Je nach Verlauf und Nerv stehen Therapieoptionen zur Verfügung.


d) Autonome Neuropathien:


Das autonome Nervensystem betrifft Nervenfasern, welche ohne willentliche Beeinflussung nahezu alle Organe des menschlichen Systems versorgen und entsprechend lebenswichtig sind. Gerade autonome Neuropathien sind die häufige Ursache, dass Patient:innen eine Unterzuckerung – Hypoglykämie – nicht oder deutlich verspätet oder nur vermindert wahrnehmen. Gleiches gilt auch bei Herzinfarkten, welche durch die autonome Nervenfunktionsstörung nicht wahrgenommen werden und einen entsprechend gefährlicheren Verlauf nehmen können. Auch Herzrhythmusstörungen oder deutliche Kreislaufregulationsstörungen mit Blutdruckabfall und Ohnmachtsanfällen sind Ursachen der autonomen Nervenfunktionsstörungen.


Aber auch der gesamte Verdauungstrakt kann dadurch gestört werden und durch die Nervenfunktionsstörung kann es dann sowohl zu Phasen mit deutlicher Verstopfung als auch zu Phasen mit Durchfällen, dies oft im raschen Wechsel, kommen.


Auch die Weiterleitung der Nahrung von Speiseröhre in den Magen kann gestört sein, sodass es zu einem vermehrten Rückfluss der Magensäure in die Speiseröhre und zu einer sogenannten Refluxgastritis und/oder Refluxösophagitis kommt.


Auch im Bereich der Geschlechtsorgane kann es zu entsprechenden Störungen kommen. Bei Frauen ist sehr häufig eine verminderte Feuchtigkeit im Scheidengebiet im Sinne einer krankhaft verminderten vaginalen Lubrikation und somit beim Geschlechtsverkehr stark störend. Bei Männern ist eine Verschlechterung der Erektionsfähigkeit gegeben, welche nicht nur durch die Nervenschädigung auftritt, sondern multifaktoriell auch durch eine Diabetesbedingte Gefäß- und Bindegewebsveränderung und auch einen, bei Diabetikern häufiger zu sehenden, Testosteronmangel.


Wesentlich ist auch eine gestörte Blasenentleerung mit Entwicklung von Restharn und dadurch ein reduzierter Urinfluss und so die Begünstigung von gehäuften Harnwegsinfekten.


e) Small-Fiber-Neuropathie:


Des Weiteren kann es bei Patient:innen mit Blutzuckererkrankung zu einem Befall ausschließlich der sehr dünnen und kaum Myelinschicht erhaltenden A-Delta-Fasern und der nichtmyelinisierten C-Fasern des Nervensystems zu entsprechenden Nervenschädigungen kommen. Hier kennzeichnet sich der Befund durch ausschließlich neuropathische Schmerzen, üblicherweise Zehen, Füße und Fingerspitzen. Die Missempfindungen werden als schmerzhaft brennend, kribbelnd oder elektrisierend beschrieben, oft auch mit Hitze- oder Spannungsgefühl. Auch attackeförmige Schmerzverstärkungen können typisch sein. Häufig sind bei Small-Fiber-Neuropathien auch autonome Symptome wie Störungen des Blutdrucks (Orthostase-Reaktionen), der Harnentleerung, der Erektionsfähigkeit als auch des Verdauungstraktes und der Schweißsekretion möglich.


Das Kennzeichen dieser Neuropathie-Variante ist eine komplett unauffällige Nervenleitgeschwindigkeits-Untersuchung. Diese wird eben von den großen und dicken Nervenfasern weitergeleitet und zeigt daher bei den Untersuchungen komplett normale Werte. Hier sind dann spezielle Tests erforderlich. Die Diagnosesicherung ist über eine Hautbiopsie erforderlich.


f) Therapie-induzierte Neuropathie


Wenig bekannt ist die Tatsache, dass eine sehr rasche Optimierung der Diabetestherapie mit einem raschen und scharfen Blutzuckerabfall zu einer Polyneuropathie führen kann. Diese wird daher häufig als „Insulinneuritis“ bezeichnet. Die Ursache dafür ist noch nicht gänzlich geklärt. Es sollte jedenfalls bereits präventiv die Blutzuckeroptimierung immer nur langsam erfolgen bzw. bei Auftreten von neuropathischen Beschwerden im Rahmen einer Zuckerneueinstellung bzw. Umstellung sofort die rasche Regulation des Blutzuckerspiegels verlangsamt werden.


Weiters ist auch die Möglichkeit gegeben, dass wiederholte Hypoglykämien, wie sie auch bei Patient:innen mit Tumoren in den Inselzellen der Bauchspeicheldrüse vorkommen, motorisch betonte Neuropathien verursachen.

Dr. Zifko

Prim. Univ.-Doz. Dr. Udo Zifko



Neurologie, Evangelisches

Krankenhaus, 1180 Wien

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