Das etwas andere Osternest

​Diese Begebenheit hat sich bereits vor Jahren ereignet, zu einer Zeit, in der es noch nicht State of the Art war, mehr Hilfsmittel als ein Blutzuckermessgerät zu haben, als es noch nötig war, 6-mal am Tag in einen Finger zu piksen oder manchmal – wenn die Finger schon zu zerstochen waren – auch seltener. Zu einer Zeit, in der Sensoren gerade begannen, Einzug in unser Leben zu halten – teilweise bereits durch die Kassen übernommen und teilweise durch Eigenleistung erworben.


Martin war zu dieser Zeit ein junger Diabetiker mit etwa 17 Jahren, der wie so viele in diesem Alter andere Interessen hatte, als sich um seinen Diabetes zu kümmern. 


Seine Diagnose erhielt er vor über 10 Jahren, er sah sich selbst als „alten Hasen“ und war der Meinung, ihm könne nichts passieren. Durch diese Einstellung hat sich über die Zeit ein gewisser Schlendrian eingenistet. Essen wurde mehr „Daumen mal Pi“ geschätzt, der Pen durfte schon ab und zu vergessen werden, und für ein paar Bissen von einer Süßigkeit oder für Chips braucht man ja nicht extra spritzen. Seine Eltern belehrten ihn nach jedem Blutbefund – ebenso das medizinische Personal. Er wusste auch, dass sie sich nur Sorgen um ihn machten – doch er war derjenige mit dem Diabetes und nicht die anderen.


Je öfter ihm zugeredet wurde, desto mehr rebellierte er dagegen. Und es festigte seine Meinung, er mache alles ausreichend und passend für seinen Körper. Es sei alles unter Kontrolle, und die anderen sollten ihn nur in Ruhe lassen.


Doch die Quittung kam in Form von Schmerzen im unteren Rücken. Der Arzt meinte, seine Niere sei angeschlagen – und wenn er nicht als Dialysepatient enden wolle, sollte er etwas ändern. Martin bekam Angst ob dieser Aussicht, er wusste nicht, was bzw. wie er es ändern sollte, mit wem er reden könnte, der ihn auch verstehen würde. Er fühlte sich allein. 


Wie so oft in unserem Leben kommt es anders, als man denkt – und eine Lösung war nicht weit entfernt. Es stellte sich heraus, dass in unmittelbarer Nähe von seinem Haus, genauer gesagt nur ein paar Häuser weiter, ein junger Mann lebte, der ihm schon durch seine Sportlichkeit auffiel. Dieser neue Nachbar war knapp 30 Jahre alt, athletisch, lebensfroh und vor Kurzem mit seiner Frau dort eingezogen. Eines Tage läutete es bei Martins Elternhaus, und als er die Tür öffnete, stand der besagte Nachbar mit einem breiten Lächeln vor der Tür: „Hallo, mein Name ist Tom, meine Frau und ich sind dort eingezogen, und ich wollte mich als neuer Nachbar vorstellen kommen.“ Martins Mutter stand neben ihm und begann sofort einen Plausch mit dem neuen Nachbarn. Martin wusste nicht so recht, was er machen sollte, beschloss aber, etwas abseits stehenzubleiben und Tom zu beobachten. Während des Gesprächs – als sei es das Natürlichste der Welt – holte dieser Mann ein Gerät aus seiner Hosentasche und hielt es für einige Sekunden an seinem Oberarm: Es piepste kurz, er sah auf das Display und steckte es wieder ein. Dabei sprach er aber ungehindert mit seiner Mutter über die Nachbarschaft weiter, als ob nichts geschehen wäre. 


„Was war das?“, fragte Martin.


„Ach so, ja, ich bin zuckerkrank und habe einen Sensor, über den ich meinen Blutzucker auslesen kann“, lächelte Tom ihn mit selbstbewusster Miene an.


Das war der Startpunkt für Martins Mutter, den neuen Nachbar förmlich mit Erzählungen zu überschütten, sie erzählte über Martins Diagnose vor Jahren und den Verlauf der letzten Jahre, seine Blutwerte und den letzten Arztbesuch. Martin wäre am liebsten im Erdboden versunken – warum machte sie das nur? Doch der neue Nachbar hörte zu und nickte nur ab und zu mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Nachdem Martins Mutter fertig und sichtlich erleichtert war, sich so einiges von der Seele zu reden, drehte er sich zu Martin, sah ihm in die Augen und sagte nur: „Wenn du einmal hören willst, was ich alles angestellt habe, dann komm doch einfach herüber.“ 


Martin hatte noch nie andere Diabetiker kennengelernt und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Tom erzählte ihm noch kurz von seinem Sensor und wie dieser sein Leben erleichtert habe, doch Martin meinte, er könne sich nicht vorstellen, immer etwas an seinem Körper zu tragen. Tom verstand seinen Einwand und meinte nur, seine Türe stehe für Fragen offen, da es ihm am Anfang auch so ging.


Martin nützte dieses Angebot in den nächsten Wochen immer öfter, und es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden. Martin hatte nun jemanden in seinem Umfeld, der ihn verstand und der in derselben Situation wie er war. Durch die Erzählungen über Toms Leben konnte er viel lernen und kam sich dabei nie verurteilt oder bedrängt vor. Durch diesen zwanglosen Umgang wurde ein normaler Alltag mit Diabetes möglich.


Als nach ein paar Monaten Ostersonntag war, läutete es an Martins Tür: Nach dem Öffnen sah er davor ein Osternest liegen; jedoch nicht gefüllt mit Schokolade, sondern mit einem Sensor-Startpaket mit der Aufschrift: „Versuche mich, wenn du möchtest – dein Nachbar hilft dir gerne beim Setzen.“

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